Irgendjemand in meiner Karawane stiehlt Lebensmittel. Ich habe drei Möglichkeiten: Ich kann meine anscheinend nicht sonderlich vertrauenswürdigen Clanmitglieder befragen, die Vorräte rationieren oder zusätzliche Wachen aufstellen, um die Lager/Händler noch besser im Auge zu behalten. Ich entscheide mich für die erste Variante; allgemeine Panik bricht aus und reduziert die Moral auf „abysmal“ (miserabel). Ich lade das Spiel beim letzten Checkpoint vor rund einer Stunde neu. Ich entscheide mich für die zweite Variante; Panik bricht aus und die Moral sinkt auf „super abysmal" (super-miserabel). Neu laden, dritte Option: Eine Weile passiert nichts, doch plötzlich ermorden die Diebe meine Wachen und stehlen sämtliche Lebensmittel, die mir noch geblieben waren. Als ich endlich die nächste Stadt erreiche, ist mein Clan um fast die Hälfte geschrumpft – es schmerzt, so viele Leute verhungern zu sehen. Oh, und ich habe kein Geld mehr, um weitere Vorräte zu kaufen. The Banner Saga ist unzweifelhaft grausam, aber diese endlose Serie brutaler Szenarios passt perfekt zu seiner wunderbaren, erwachsenen Ende-der-Welt-Geschichte.
The Banner Saga ist zum Teil taktisches Rollenspiel, zum Teil Oregon Trail und zu einem gewissen Teil auch Depressionssimulation und bietet eine lohnende Reise, die in Leid und Elend getaucht ist. Sein faszinierendes, von Wikingern inspiriertes Setting wird von den Dredge überrannt, einer Rasse bösartiger Felsleute, die die Welt zerstören möchten – und damit natürlich auch Ihre Stadt. Sie haben das Kommando über eine Karawane von Überlebenden und es ist Ihre Aufgabe, diese leidgeprüften Leute in Sicherheit zu bringen. Nur – Sie werden schnell herausfinden, dass es Sicherheit nicht gibt. Jeder Marsch ist gefährlich: es wird zwar niemand in Ihrer Karawane an Ruhr sterben, aber Sie müssen die Leute vor Briganten, Dredge und sogar Ihren eigenen gierigen Clanmitgliedern beschützen, während Sie ganz nebenbei die Vorräte managen, um sicherzustellen, dass niemand verhungert. The Banner Saga macht mehr als klar, dass einige wenige Helden nicht viel bewirken können, wenn Millionen Feinde vor der Haustür stehen.
Zunächst stellt sich die Hoffnungslosigkeit in Form herausfordernder taktischer Kämpfe ein. Diese Raster (Grid)- basierten Kämpfe erinnern an diejenigen in Spielen wie Final Fantasy Tactics oder Fire Emblem, wo Sie Zugriff auf rund ein Dutzend Klassen haben, die über jeweils eigene Stärken und Schwächen verfügen. Die feindliche AI ist frustrierend geschickt, denn die Feinde gehen im allgemeinen zuerst gegen die schwächeren Einheiten vor, die sie leicht töten können, und stürzen sich dann gemeinsam auf eine einzelne starke Einheit. Ein einziger Fehler kann ausreichen, einen Kampf zu verlieren, und wenn Sie Gefechte gewinnen, stehen am Ende oft nur mehr ein oder zwei Ihrer Einheiten aufrecht. Wie auch immer der Kampf ausgeht, Ihre Reise geht weiter. Es ist nicht unmöglich, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, aber Sie sind gezwungen, sämtliche Gegenstände und Fähigkeiten, die Ihnen zur Verfügung stehen, zu Ihrem Vorteil zu nützen. Zum Glück sterben Ihre Soldaten nicht, wenn sie besiegt werden (ansonsten wäre es unmöglich, The Banner Saga erfolgreich zu beenden), aber sie nehmen Schaden und büßen Gesundheit ein, weshalb sie, bis sie völlig ausgeruht sind, um einiges schwächer sind als zuvor, was den Umstand, dass der nächste Kampf zumeist unmittelbar bevorsteht, umso beängstigender macht. Selbst wenn man gewinnt, hat man das Gefühl, verloren zu haben.
Aber die Kämpe sind nichts im Vergleich mit den herzzerreißenden Tragödien, die sich während der Reisen Ihrer Karawane zwischen den Kämpfen abspielen. Während Sie von einer Stadt zur nächsten marschieren, müssen Sie ständig schwere Entscheidungen treffen, deren Resultate typischerweise von „Oh Gott, ich bin erledigt“ bis "FUUUUUUUUUUUUUCCCCCKKKK“ reichen. Stellen Sie sich der riesigen Dredge Armee, die Ihnen im Nacken sitzt, um so dutzende Clanmitglieder zu verlieren? Oder entscheiden Sie sich dafür, die Flucht zu ergreifen und die Alten und Kranken zurückzulassen? Sie werden im Kampf keine Gruppenmitglieder auf Dauer verlieren – aber das kann passieren, wenn Sie eine Gruppe von Reisenden in Ihre Karawane aufnehmen und diese undankbaren Leute dann Ihren Tank abstechen, ehe sie Ihre Vorräte stehlen. Es ist unmöglich, die eigenen Entscheidungen nicht permanent in Frage zu stellen, wenn scheinbar einfache Lösungen Resultate zeitigen, die man nie im Leben vorausgesehen hätte. Nach nur ein oder zwei Stunden werden Sie diese stressigen Situationen viel beängstigender und herausfordernder finden als die Kämpfe, die Ihnen bevorstehen – was vor allem auch daran liegt, dass Sie nicht manuell speichern können, was Ihnen mitunter wie ein Fluch vorkommen wird. Sollte Ihnen jedoch das Ganze zu schwierig werden, können Sie jederzeit den Schwierigkeitsgrad verändern, damit Sie auf jeden Fall das Ende der gut geschriebenen Story erleben können.
Sollten Sie ein paar Kämpfe gewinnen oder versehentlich das geringere Übel wählen, wenn Sie Entscheidungen treffen, werden Sie dafür mit Ansehen/Ruhm (renown) belohnt. Was Ihnen diese scheinbar seltene Ressource (oder liegt das nur an meinem Spielstil?) einbringt, passt sehr gut zur Überlebensthematik von The Banner Saga. Renown ist eine Art Währung und dient dazu, Gegenstände, die Ihre Kämpfer stärker machen, oder Vorräte, die Ihre Karawane am Leben erhalten, zu erwerben. Sie kann auch dazu benützt werden, Ihre Soldaten auzuleveln, wodurch es ein wenig leichter wird, Kämpfe erfolgreich zu bestehen. Die Sache ist die: Sie werden stets Mangel an all diesen Dingen haben, die Sie so dringend benötigen. Gegenstände geben Ihren Kämpfern große Vorteile in den Kämpfen; durch Aufleveln können Sie ihre statistischen Werte/Eigenschaften (stats) verbessern; und was die Vorräte anbelangt, müssen Sie beachten, dass niedrigere Moral innerhalb der Karawane mehr Kämpfe untereinander und mehr Morde zur Folge hat, wodurch die Reise noch viel gefährlicher wird. Sie sollten unbedingt darauf achten, dass Ihre Clanmitglieder zufrieden und am Leben bleiben. Aber das ist leichter gesagt, als getan.
Wie mörderisch Ihr Abenteuer auch sein mag,die kleinen Triumphe und die Verbindungen zwischen den Charakteren sind es wert, die Mühen zu ertragen. Nur wenig ist so befriedigend wie der Aufbau von engeren Beziehungen mit den Gruppenmitgliedern oder das Leeren eines Fasses Bier (Ale) und das Singen heroischer Lieder mit den Clanmitgliedern, nachdem man tagelang nur schreckliches Pech hatte. Diese hoffnungsvollen Momente, die viel zu selten sind, sorgen dafür, dass Sie sich mit denen, für die Sie sorgen müssen, wirklich verbunden fühlen. Sogar die unglaubliche Musik und die wunderschönen von Hand gezeichneten Bilder lindern das Elend ein wenig; man wird mit einer erfrischend einmaligen Ästhetik erfreut, die überraschend gut funktioniert, wenn man bedenkt, wie trostlos die Geschichte ist.
Letztlich geht es bei The Banner Saga weniger darum, wie viele Kämpfe man gewinnt oder welchen Level die eigenen Kämpfer erreichen, sondern vor allem darum, die Reise von Anfang bis Ende zu überleben. All die sich verzweigenden Entscheidungen und die vielen möglichen spielbaren Charaktere bedeuten, dass Ihr Spielerlebnis völlig anders sein wird als dass Ihrer Freunde. Die interessante, ungefähr 10 Stunden lange Kampagne ist so fesselnd, dass Sie diese unbedingt bis zum Ende durchspielen wollen, egal welche Schwierigkeiten Sie dafür überwinden müssen. Sie werden schwere Entscheidungen treffen müssen. Leute, die Ihnen mit der Zeit ans Herz gewachsen sind, werden sterben. Und wenn der Abspann zu laufen beginnt, werden Sie eine ganz eigene, wirklich erzählenswerte Geschichte erlebt haben.
PRO: Interessante Story; einzigartige Ästhetik; starke AI macht jeden Kampf zu einer Herausforderung; viele schwere Entscheidungen müssen gefällt werden.
CONTRA: Manuelle Speichermöglichkeiten fehlen.
Abschließende Bewertung
Spiel: 9,25
Spaßfaktor: 9,0
Dieses Spiel wurde auf dem PC getestet.
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