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Björk: Utopia (Albumkritik)

 

Liebe, Angst und erschreckend schwache Songs – auf diesem „Tinder-Album“ sind der Künstlerin Klanglandschaften wichtiger als Melodien, was nicht allen Hörern gefallen dürfte.

 

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Björk: Utopia (One Little Indian)

 

 

In dieser Phase ihrer Karriere erwartet sicher niemand mehr, dass Björks neuestes Album auch nur ansatzweise so klingt wie das davor. Und dennoch fällt es schwer, nicht dankbar aufzuatmen, wenn „Arisen My Senses“, der ersten Track ihres neunten Studioalbums, dem sie den Titel Utopia gab, ins Leben kracht: Vogelgesang macht fröhlichen Elektronikklängen, himmlisch klingenden Harfenakkorden und Beats Platz, die jenen des oft gesampelten Rhythmustracks von Schoolly Ds altem Rap-Klassiker „PSK, What Does It Mean?“ nicht unähnlich sind. Dieser erste Song klingt geradezu ekstatisch, was erleichternd ist. Utopias Vorgänger, das 2015 erschienene Vulnicura, war ein bemerkenswertes Werk, ein moderner Eintrag in den Kanon legendärer Trennungsalben. Es erlangte seinen Platz neben Marvin Gayes Here, My Dear und Bob Dylans Blood on the Tracks, indem es seinen maßlosen Kummer mit atonalen Streicher-Arrangements und abstrakten Elektronikklängen untermalte, die sich auf dem zentralen Track immer wieder in ein monotones Piepsen auflösten. Es war roh, mutig herausfordernd, einzigartig und all die anderen Eigenschaftswörter, mit denen es in Rezensionen bedacht wurde, aber selbst mit dem allerbesten Willen kann man sich ein Album, das so erschütternd ist, dass das Auftauchen der düsteren Sängerin Anohni als heitere Auflockerung durchgeht, nicht mehrmals anhören.

 

Für Utopia arbeitete Björk nach Vulnicura erneut mit dem in Venezuela geborenen, jetzt in London lebenden Arca, der für seine elektronischen Klangbasteleien bekannt ist, zusammen, aber diesmal wird leichteres und fröhlicheres Material geboten. Neben seinen sich ständig verändernden Klanglandschaften, verzerrten Beats und seiner Vorliebe für Klangtapeten, die aus manipulierten Gesangssamples bestehen, sind auf diesem neuen Album vor allem Holzblasinstrumente zu hören, die von 12 Flötistinnen aus Reykjavik beigesteuert wurden, weshalb es sich automatisch luftiger, leichter anhört als das klaustrophobische Vulnicura. Bjökr sagt, dass dies ihr “Tinder album” ist, und es wurde als eine Art von Songs for Swinging Bachelorettes beworben, was angesichts der Texte durchaus verständlich ist, die sowohl von Technologie als auch den Wechselfällen aufkeimender Liebe besessen sind. “Is this excess texting blessing?” wird auf „Blissing Me“ gefragt, der Saga von “two music nerds … sending each other MP3s”, ehe die Rückkehr zum Kummer erfolgt: “our physical union a fantasy, I just fell in love with a song”. „Courtship“ hingegen scheint sich tatsächlich mit den Nachwirkungen des unbekümmerten „swiping left“ auf einer Dating App zu befassen: “he downturned me, I then downturned another, who then downturned her – the paralysing juice of rejection”.

 

All das ist mit Musik untermalt, die sich ständig verändert wie die Landschaft, die man aus einem fahrenden Zug sieht. Sie ist emotional weniger anstrengend als das Material auf Vulnicura, doch Utopia ist trotzdem mit Tracks gefüllt, die ohne formelle Strophe-Refrain-Struktur auskommen und deshalb gelegentlich klingen, als wären sie frei improvisiert. Doch es ist offensichtlich, dass viele Gedanken und Mühen aufgewendet wurden, um den Sound des Albums und das Timbre von Björks Gesang zu kreieren – die „R“ werden oft sehr bewusst gerollt, um dramatische Effekte zu erzielen, und die Eigenarten ihres Akzents werden immer wieder betont. Die Wirkung ist immer wieder atemberaubend: die Art und Weise, wie auf „Losss“, auf dem die von Vulnicura bekannte Schwermut nach der Scheidung und Flöten plötzlich wieder zum Vorschein kommt, die Harfe und die Flöten einem harten Rhythmus weichen, hat schon etwas für sich; das ausufernd, 10-minütige „Body Memory“, ein Song der zwischen Angst und dem Verlangen, nur im Augenblick zu leben, hin und her schwingt, fließt geradezu über vor Choralgesang, glitchenden Beats und lebhaften Holzbläsern.

 

 

Doch leider muss man sich immer wieder fragen, ob den zentralen Melodien der einzelnen Stücke ebenso viel Aufmerksamkeit zuteil wurde, da diese mitunter erschreckend dürftig sind. „Blissing Me“ hängt im Grunde über die ganze Spieldauer hinweg an demselben aus acht Noten bestehenden Refrain; das Dröhnen von „Features Creatures“ wirkt platt, statt hypnotisch; „Tabula Rasa“ verfügt über ein wunderbares funkelndes Arrangement, einen schönen Text über die Elternschaft (“I hope to give you the least amount of baggage, you got the right to make your own fresh mistakes”), aber keine Melodie, die einen auch nur ansatzweise begeistern könnte. In diesen Momenten kann es seltsam frustrierend sein, sich die 71 Minuten von Utopia aufmerksam anzuhören: am besten lässt sich diese Erfahrung mit dem Betrachten eines sehr langen Films zu vergleichen, bei dem die Kamera ständig auf die Szenerie fokussiert ist, so dass man von der Action kaum etwas mitbekommt.

 

Das Album endet mit einem trotzigen Statement der Absicht: “Imagine a future and be in it … your past is a loop, turn it off“, singt sie auf „Future Forever“. Das ist vermutlich eine Anspielung darauf, den negativen Konsequenzen der Ereignisse, die auf Vulnicura thematisiert wurden, zu entkommen, aber es könnte sich genauso gut um die Beschreibung von Björks musikalischer Mission handeln. In gewisser Weise wird Utopia dieser Mission gerecht: es klingt nicht wie irgendetwas Anderes, sondern es ist hörbar das Werk einer Künstlerin, die ihr eigenes neues musikalisches Territorium erkundet. Aber mitunter wirkt es auch wie das Werk einer Künstlerin, die so konzentriert nach vorne blickt, dass sie ihr Publikum ausgeblendet hat: eine emotionale Reise, die man fasziniert aus der Ferne betrachte, ohne an ihr teilzuhaben.

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