Wollen nicht alle stark und intelligent sein?
Ich habe genug von Ryu. Ich kann den Typen einfach nicht mehr sehen. Nein, ich möchte damit nicht behaupten, dass vorgefertigte Charaktere, die herumgehen und Kämpfe vom Zaun brechen, nicht nach wie vor Spaß machen können, aber irgendwie wird das langweilig. Die Feuerbälle, die Uppercuts, der stoische Protagonist; ja, ich habe diesen und ähnliche Archetypen satt, was vor allem daran liegt, dass 2D-Kampfspiele seit allzu langer Zeit immer wieder dasselbe bieten, weshalb es den Reiz verloren hat. Als ich das Indie-Kampfspiel Skullgirls in Angriff nahm, suchte ich deshalb auch zuerst nach Archetypen.
Aber siehe, ein Ryu war nirgends zu entdecken. Ja, es gibt Charaktere, die mit Projektilen um sich werfen, und es gibt auch welche mit Z-Motion-Anti-Luft-Moves, aber sie sind von den Archetypen so weit entfernt, wie es nur irgend möglich ist. Das will etwas heißen bei lediglich acht spielbaren Charakteren: es wird rasch klar, dass sich hier eine neue Reihe einen der vorderen Plätze im Kampfspielgenre erkämpfen möchte. Skullgirls ist ein Kampfspiel für Kampfspielfans. Falls Sie zu den von Turnier zu Turnier springenden wettkampfmäßigen Spielern zählen, die ihren speziell angefertigten Stick wie ihren Augapfel hüten, sollten Sie dieses Spiel unbedingt spielen.
Es ist von Anfang an offensichtlich, dass Skullgirls für die Hardcore-Spieler gemacht wurde. I, Grunde wird hier das Ratio-System von Capcom Vs. SNK 2 mit einem Crossover-Tag-Fighter wie den Spielen der Marvel Vs. Capcom Serie kombiniert, was den Eindruck entstehen lässt, dass Skullgirls bewusst so gestaltet wurde, um im Turnierspiel größtmögliche Flexibilität bieten zu können. Die Spieler auf beiden Seiten können wählen, ob sie einen sehr starken Kämpfer, drei relativ schwache Kämpfer oder ein Team aus zwei Kämpfern, wobei die Stärke zu gleichen Teilen auf beide aufgeteilt wird, haben möchten. Wenn sich beide Spieler entscheiden, auf je einen einzigen starken Kämpfer zu setzen, wird das Match als „best of three“ (also auf zwei gewonnene Runden) ausgetragen, wie dies auch bei den meisten anderen Kampfspielen der Fall ist. Wenn ein Spieler oder auch beide Spieler lieber mit einem Team spielen will beziehungsweise wollen, dann wird der Kampf automatisch auf eine Runde reduziert. Jeder Spieler, der vor kurzem an einem King of Fighters XIII Turnier teilgenommen hat, wird Ihnen bestätigen können, dass dies ein größerer Segen ist, als man zunächst annehmen möchte.
Mit oder auch ohne Teamdynamiken wie Tag Assist Attacks und Snapback-artige Moves, die ein anderes Teammitglied in den Kampf zwingen, fliegen Fäuste und Tritte hier sehr schnell und flüssig. Von normalen Attacken über Special Moves bis hin zu Superattacken (diese heißen hier Blockbusters) kann fast jeder Move mit andern kombiniert werden, um sicherzustellen, dass die Schläge und Tritte ohne Unterlass auf den Gegner einprasseln. Normale Moves können leicht benützt werden, um einen Gegner, der von der Wand oder vom Boden zurückprallt, mit größerer Wucht zu treffen und in die Luft zu katapultieren und so dafür zu sorgen, dass die Combos und Tag-Attacken immer weiter treffen. Nur wer seine Angriffe ohne Unterbrechung anbringen kann, wird am Ende siegreich sein.
Dadurch ist die Latte für den erfolgreichen Einstieg ins Spiel relativ hoch gelegt. Obwohl das Spiel erst seit kurzem gespielt werden kann, treiben sich bei den Online-Matches schon reihenweise Spieler herum, die regelmäßig Combos aus 10 – 20 Moves aneinanderreihen, was die meisten Neueinsteiger abschrecken dürfte. Im Spielumfang ist ein Tutorial enthalten, dass Ihnen zeigt, wie Sie all diese Tricks anwenden und sich dagegen verteidigen können, aber das beweist nur, dass Skullgirls für geübte Hände geschaffen wurde.
Aber wenn Sie gewillt sind, Zeit und Arbeit zu investieren, können Sie sich auf sehr befriedigende Spielmomente freuen. Was Sie für den Kaufpreis von $15 erhalten, ist nicht gerade üppig: 8 Charaktere und keine Möglichkeit, diese individuell zu trainieren, aber eine jede der Kämpferinnen ist so einzigartig und spielen sich so unterschiedlich, dass sowohl alte als auch neue Kampfspielfans einige Zeit beschäftigt sein werden. So kann zum Beispiel Ms Fortunate ihren kopf abnehmen und diesen entweder als Wurfgeschoß oder zweiten Angreifer einsetzen, um den Gegner so in die Enge zu treiben, was Uriens Aegis Reflector in Street Fighter III: Third Strike erinnert, nur dass hier diese Trennung von Kopf und Körper eine ganze Runde andauern kann. Ausgefallen, aber effektiv.
Da gerade von Third Strike die Rede war, soll nicht unerwähnt bleiben, dass die im Vorjahr erschienene fantastische Online Edition dieses Spiels Skullgirls in Bezug auf die Online-Modi nicht das Wasser reichen kann, obwohl sie sich desselben GGPO Net Codes bedienen. Es wird vor allen Kämpfen ausdrücklich auf deren Stabilität hinsichtlich der Verbindung hingewiesen und es können vor jedem Match kleine Anpassungen vorgenommen werden, was die Zahl der Frames, die übersprungen werden können, anbelangt. Rund 85% der Online-Kämpfe, an denen ich teilnahm, waren sehr flüssig und problemlos spielbar und nur einige wenige waren wirklich unspielbar. Es gibt die üblichen gereihten und nicht gereihten Matches, aber von Turnier- oder Zuschauermodi ist weit und breit nichts zu bemerken.
Abgesehen von den anatomisch unmöglichen Frauen, aus denen sich die Riege der Kämpferinnen zusammensetzt, sind das Design und die Animationen eine wahre Augenweide. Das Art-Deco-Design verleiht nicht nur den spielbaren Charakteren, sondern auch den Hintergründen reichlich Flair. Besonders die Kulissen mit ihrem an alte Cartoons erinnernden wasserfarbenartigen Look sind bezaubernd.
So gut auch alles aussehen mag, das ist nur Dekoration. Es gibt zwar nicht viele Charaktere und auch das Angebot an Modi hält sich in Grenzen, aber Skullgirls ist ein ausgefeiltes Kampfspiel, das auch alte Hasen erfreuen und lange beschäftigen wird. Sofern Sie nichts dagegen haben, einige Zeit im Übungsmodus zu verbringen, könnte Skullgirls zu einem der besseren Kampfspiele werden, die Sie in den letzten Jahren gespielt haben.
PRO: Abwechslungsreiche, taktisch anspruchsvolle Kämpfe mit vielen Combos; erstklassige, sehr stabile Online-Kämpfe; beeindruckendes optisches Design.
CONTRA: Für Neueinsteiger kaum geeignet; nur wenige spielbare Charaktere; bescheidener Umfang.
Abschließende Bewertung
Spiel: 7,75
Spaßfaktor: 8,5 (für erfahrene Spieler)
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