Virginia Wing: Ecstatic Arrow (Fire Records)
Die Schweiz ist nicht nur militärisch neutral, sondern wirkt aufgrund seiner kaum existenten Popgeschichte (Yello, DJ Bobo) auch musikalisch neutral – und deshalb ist das Land vielleicht der einzige Ort, an dem dieses Dream-Pop-Du aus Manchester den visionären, völlig idiosynkratischen Sound kreieren konnte, den es für sein drittes Album aufnahm. Da sind Elemente des wackelige Prä-Internet-Weltbürgertums der Exotica-Bewegung, Einflüsse von Post-Punk-Bands wie A Certain Ratio und Aspekte der “fourth world” Musik von Jon Hassell zu hören, verarbeitet und vermischt mit bemerkenswerter Pop-Intelligenz. „The Second Shift“ skankt sanft, als würde der Song versuchen, mit einem Tablett voller Piña Coladas zu tanzen, während „Glorious Idea“ eine mitreißende Disco-Nummer ist, doch der intensivste und schönste Song ist das langsame, traurige „For Every Window There’s a Curtain“. Neben den soliden Rhythmen ist vor allem Sängerin Alice Merida Richards der Anker inmitten des klanglichen Plätscherns. Ihre Stimme ist wie eine Mischung aus Broadcasts Trish Keenan, Stereolabs Laetitia Sadier und Julia Holter: was zunächst mädchenhaft, naive und offenherzig wirkt, entpuppt sich als ziemlich abgestumpft und müde. Ihre poetischen Texte beschwören (vor allem weibliche) Figuren herauf, die sich nach Befreiung sehnen, aber in einem Netz von Mansplainers, beeinträchtigtem Selbstwertgefühl und Architektur, sowohl real als auch psychisch, gefangen sind. Doch die letzten Worte des Albums, die die Breakbeats von „Seasons Reversed“ wieder einleiten, lauten: “And now that I’m sure I won’t hesitate / Or try to find an excuse / Not to open and walk through the door” – ein euphorischer Abschluss, nachdem man schon befürchten musste, Richards' Zähne wären bis zu den Wurzeln abgerieben worden.
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