Der Gestank macht mich zuerst auf sie aufmerksam. Vor dem Gurgeln und Fauchen, vor dem Geräusch der Klauen auf dem nackten Fels nehme ich in der abgestandenen Luft der verlassenen Mine einen Hauch des Übelkeit erregenden Atems der Kreaturen wahr, den widerlichen Geruch von verdorbenem Fleisch zwischen verrotteten Zähnen.
Die Rotfiends. Fresser der Toten.
Sie überwältigen zwei meiner Sinne, weshalb ich verstärkt auf einen dritten bauen muss. Ich ziehe geräuschlos den Korken aus einem Fläschchen und führe dieses an meine Lippen. Grelle weiße Helligkeit tritt an die Stelle flackernder Schatten, als die bittere Kräutermischung zu wirken beginnt.
Meine Augen passen sich an den Effekt des Trankes an. Die Kreaturen sind trotz der Entfernung - und trotz der steinernen Wände - deutlich zu erkennen. Die gebückten Silhouetten der Rotfiends pulsieren mit oranger Wärme in den kalten, feuchten Tiefen, während sie darauf warten, dass ein armer, nichts ahnender Narr über sie stolpert.
Heute werden sie keinen solchen Narren finden.
Ich könnte diese Kreaturen wie ein Held aus dem Märchen zur Strecke bringen, aber ich bin nicht diese Art von Abenteurer. Ich bin ein Gelehrter, mein Verstand ist eine viel mächtigere Waffe als jedes geschärfte Metall. Ich bereite mich vor. Dann tue ich meine Anwesenheit kund.
Die Rotfiends attackieren mich sofort, denn sie werden nur von Gier und Hunger angetrieben. Sie sehen nur ihre nächste Mahlzeit. Sie haben keine Augen für die Fallen, die ich ihnen in den Weg gelegt habe. Schwere metallene Kiefer schließen sich um dürre Beine und rufen Schmerzensschreie hervor, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen.
Nachdem so ihr Herannahen beträchtlich verlangsamt wurde, werfe ich eine Glaskugel in ihre Mitte. Sie zerbirst zwischen ihnen auf dem Steinboden und verursacht nur ein leichtes Schimmern in der Luft. Das Gas ist farb- und geruchlos. Das Gas ist außerdem sehr leicht entflammbar. Ein einfaches mystisches Handzeichen lässt Feuer von meinen Fingerspitzen springen und die Höhle verwandelt sich in ein Flammenmeer.
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The Witcher 2: Assassins of Kings ist keine Geschichte des vom polnischen Autor Andrzej Sapkowski geschaffenen Helden Geralt von Rivia; es ist die Geschichte Ihres Geralt von Rivia. Die Leute von CD Projekt Red haben sich große Mühe gegeben, ein Spiel zu erschaffen, das noch besser ist als The Witcher aus dem Jahre 2007. Sie haben zu diesem Zweck eine beeindruckende neue Spielengine mit umwerfenden Spezialeffekten gebaut. Sie haben das Buch gehörig gestrafft und eine äußerst spannende Erzählung, die durch humorige Sprüche aufgelockert wird, zustande gebracht. Die Kämpfe sind schneller, flüssiger und natürlicher als die komplizierten, mit Stellungswechseln verbundenen Auseinandersetzungen des ersten Spiels. Selbst die für The Witcher typischen sexuellen Einlagen wurden auf ein neues Niveau gehoben. Diese Verbesserungen versprechen eine sehr unterhaltsame PC-Rollenspiel-Erfahrung, doch was The Witcher 2: Assassins of Kings so exzellent macht, ist dasselbe Konzept, das schon den Vorgänger so erfolgreich machte: De große Einfluss der Entscheidungen des Spielers auf den Spielverlauf.
Nehmen Sie nur den Kampf, den ich oben beschrieben habe: ein einziges Gefecht, ein kurzer Moment in einer mehr als zwanzig Stunden langen Story. Dieser ungefähr zwei Minuten lange Kampf war eine einzigartige Erfahrung, basierend auf den Entscheidungen, die ich während des Auflevelns meines persönlichen Geralt von Rivia getroffen hatte. Ich entschloss mich, Fähigkeitspunkte in Alchemie und nicht in Schwertkampfkunst oder Magie zu investieren. Ich entschloss mich, die Fallen, über die ich stolperte, für den späteren Gebrauch mitzunehmen. Ich entschied mich, die für die Gasbombe und den die Sehkraft verbessernden Trank notwenigen Kräuter zu sammeln. Ich wählte meinen Weg.
Ein anderer Spieler wäre vielleicht mit gezogenem Schwert mitten in die Menge der Feinde gesprungen, weil er seine Nahkampffähigkeiten verbessert hat und ihm so die Klauen der Rotfiends wenig anhaben können. Wieder ein anderer hat vielleicht seine magischen Fähigkeiten ausgebaut, weshalb er die Kreaturen bewegungsunfähig machen und mit geheimnisvollen Kräften vernichten kann. Aber es könnte auch sein, dass sie diese Höhle überhaupt nicht betreten.
Mich beeindruckt sogar noch mehr, dass dieser Grad an Freiheit der Charakterentwicklung ermöglicht wird, obwohl man in die Rolle eines etablierten fiktiven Helden schlüpft. Zwar nicht unbedingt in den USA, aber in Europa - und ganz besonders in Polen – ist The Witcher ein äußerst beliebtes Franchise. Es gibt Filme, Fernsehserien, Comicbücher, Kartenspiele und sogar ein Füllfeder –und-Papier-Rollenspiel, die auf den Heldentaten des Monsterjägers Geralt von Rivia basieren. Seine Fähigkeiten wurden in mehreren Medien ausreichend dargelegt, doch hier kann man mit ihnen mehr oder weniger nach Gutdünken verfahren. Es ist fast so, als könnte man Frodo in einem Herr der Ringe-Spiel zu einem winzigen Killer mit behaarten Füßen machen. Die Tolkien-Fans würden ausrasten. Fans von The Witcher erfreuen sich an ihrem persönlichen Geralt von Rivia.
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Nach durchzechter Nacht erwache ich mit dem Geschmack von Flussmatsch im Mund und brummendem Schädel.
Ich rapple mich langsam auf, klopfe mir Sand und schmutz von der Kleidung und vertreibe lästige Insekten. Die Morgensonne sticht wie mit Dolchen in meine Augen, die ich behutsam öffne, um mich mit meiner Umgebung vertraut zu machen.
Das Städtchen Flotsam (Treibgut) zeichnet sich hinter mir ab und sieht so heruntergekommen aus, wie ihr Name vermuten lässt. Ich erinnere mich dunkel an einen angenehmen Abend, den ich Bier trinkend und Geschichten austauschend mit einer ausgelassenen Gruppe von Söldnern verbrachte, wobei die Stadt sehr sicher und fest an ihrem Ort stand und sich überhaupt noch nicht drehte.
Irgendjemand muss die Stadt verschoben haben, während ich schlief. Das passiert bisweilen.
Ich knie nieder, um meine Sachen zusammenzupacken, und muss feststellen, dass es nichts zum Zusammenpacken gibt. Ich trage nur meine Unterwäsche, die jetzt ganz feucht und schmutzig ist.
Irgendjemand hat also auch meine Kleidung wegbewegt. Solche Unmenschen!
Ich stolpere in Richtung der verlegten Stadt, wobei ich mir den Nacken reibe, der brennt, als wäre er vor kurzem tätowiert worden. Seltsam.
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Die Entscheidungen, die man in The Witcher 2 treffen kann, gehen weit über einfache Statistiken und das Zuteilen von Erfahrungspunkten hinaus und geben dem Spieler die Möglichkeit, die Handlung zu beeinflussen. Betrunken und nackt am Flussufer aufzuwachen, ist eine Erfahrung, die sicher nicht jeder haben wird, der dieses Spiel spielt. Ich stolperte da mehr oder weniger zufällig hinein, während ich einen der Schauplätze des Spiels erforschte, weil ich ein wenig Ärger provozieren wollte. Die Entscheidungen, die ich an jenem Abend traf, ließen mich am nächsten Tag in einer doch ein wenig kompromittierenden Lage erwachen, aber blieben ohne weiterreichende Konsequenzen. Andere Entscheidungen können den gesamten Spielverlauf ändern.
Geralt von Rivia, auch gennant der Weiße Wolf, ist ein Witcher (Hexer), einer jener legendären Monsterjäger, die dank jahrelangen Trainings zu Übermenschen wurden und aufgrund der Anwendung von magischen Tränken und Salben über übernatürliche Kräfte verfügen. Das einfache Volk hält sie für Mutanten und fürchtet sich vor ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten. Als König Foltest, der zuletzt mit Geralt gesehen wurde, tot aufgefunden wird, ziehen einflussreiche Leute die offensichtlichen Schlüsse. Der Anfang der Handlung ist strikt vorgegeben. Der Rest hängt vom Spieler ab.
Tatsächlich hängt das gesamte zweite Kapitel von den Entscheidungen ab, die der Spieler im ersten trifft. Die Wahl der Verbündeten und der Aktionen in der Hafenstadt Flotsam zeitigt solch unterschiedliche Ergebnisse, dass man das Spiel (zumindest) zweimal durchspielen muss, um seinen vollen Umfang erfahren zu können.
Die List von CD Projekt Red ist für den hohen Wiederspielwert von The Witcher 2 verantwortlich. Während in vielen Spielen, die dem Spieler eine gewisse Entscheidungsfreiheit gewähren, die zur Auswahl stehenden Möglichkeiten klar als gut oder böse erkennbar sind, ist die Witcher-Serie in dieser Beziehung um einiges hinterhältiger. Die Konsequenzen weitreichender Entscheidungen werden nicht sofort offenbar. Sie wirken sozusagen im Gedächtnis des Spiels fort und treten oft erst viele Stunden später deutlich hervor. Immer wieder wurde ich von den Auswirkungen scheinbar belangloser Entscheidungen überrascht. Wenn Sie Bauern aus einem brennenden Gebäude retten, erhalten Sie vielleicht irgendwann später ein wertvolles Geschenk. Wenn Sie einen zornigen Mob überreden können, einen Verdächtigen zu verschonen, wird dieser möglicherweise in der Folge eine mächtige Person in der Welt von The Witcher 2.
Die größte Leistung des Entwicklers im Zusammenhang mit diesem System besteht darin, dass es gelungen ist, so ein großes Maß an Gestaltbarkeit zu ermöglichen, ohne dass die Story in sich zusammenbricht. Diese fesselnde Geschichte rund um politische Intrigen, magische Spionage und Selbsterkenntnis gedeiht aufgrund Ihrer Entscheidungen des Spielers und umfließt diese, um so eine legendäre Erzählung zu kreieren, die Ihre höchstpersönliche ist.
The Witcher 2: Assassins of Kings über trifft seinen exzellenten Vorgänger bei weitem. CD Projekt Red hat ein Rollenspiel mit hervorragender Grafik, actionreichen Kämpfen einer vielschichtigen, äußerst spannenden Geschichte und - für alle, die sich für so etwas interessieren – sehr offenherzigen sexuellen Begegnungen geschaffen. All diese Features treten jedoch gegenüber dem in den Hintergrund, was das Wichtigste bei einem Rollenspiel ist: die Rolle, die man spielt.
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Ich stehe am Rande der felsigen Klippen, die die zerstörte Elfenstadt Loc Muinne überragen, und lasse alles, was seit dem ersten Kampf, als König Foltest sein Leben verlor und ich zum Gejagten wurde, passiert ist, vor meinem geistigen Auge vorüberziehen.
In meinem Kopf wirbeln die Erinnerungen durcheinander; mein Körper fühlt seine eigenen: frische Narben und Blutergüsse, Überbleibsel all der Hindernisse, die ich überwinden musste, um bis hierher zu gelangen.
Die Welt hat sich seit dem Beginn meines Abenteuers dramatisch verändert. Ich habe viele dieser Veränderungen bewirkt.
Dennoch frage ich mich, wie alles gelaufen wäre, hätte ich in der einen oder anderen Situation anders gehandelt…
PRO: Fesselnde Geschichte; tolle Grafik; die Entscheidungen des Spielers haben großen Einfluss auf den Ausgang des Spiels; Charakterentwicklung; die Kämpfe erfordern gute Planung; hoher Wiederspielwert.
CONTRA: Möglicherweise für manche Spieler zu schwierig; Änderungen beim Kampfsystem könnten Fans des ersten Spiels stören.
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