Diese brillante Detektivgeschichte von Team Bondi und Rockstar Games ist ein kühner, filmreifer Schritt nach vorne in der Entwicklung des HD-Abenteuerspiel-Genres.
Der beste Trailer für das Videospiel L.A. Noire, der nie gemacht wurde, hätte nur das Gesicht eines Mannes gezeigt. Das Gesicht wäre das eines unscheinbaren, hart arbeitenden Ladenbesitzers im Los Angeles von 1947 gewesen. Sein Gesicht würde einige Falten, erste Anzeichen des nahenden alters, aufweisen.
Sie würden dieses Gesicht eine Minute lang ansehen. Der Mann würde viermal blinzeln, vielleicht auch fünfmal. Sein Kinn würde sich ein wenig bewegen. Sein Kopf würde sich leicht zur Seite neigen, wie es häufig passiert, wenn ein Mann darauf wartet, ob ein Beamter der Polizei von Los Angeles seine Aussage glaubt oder ihn gleich einen Lügner nennt.
Dieser beste L.A. Noire Trailer, der leider nie zustande kam, würde genau eine Minute dauern, während der Sie das Gesicht eines Mannes ganz genau studieren würden, der Ihnen gerade erzählte, dass die Lady, die vergangene Nacht in seinem Laden war, eine Flasche Roggenwhiskey gekauft und er nicht das Geringste damit zu tun hätte, dass sie jetzt im Leichenschauhaus liegt. Sie würden sich eine Minute lang fragen: Ist dies das Gesicht eines ehrlichen Mannes? Oder das eines Lügners? Ist er ein anständiger Bürger oder ein Mörder? Vielleicht sogar beides?
Gerade hat er geblinzelt.
Hat er sich damit verraten? Hat er gelogen? Würde er es überhaupt wagen zu lügen?
Der Trailer würde ohne befriedigende Antwort enden. Sie würden sich fragen, ob sie dem Mann 1) glauben, 2) an seiner Aussage zweifeln oder 3) in mit dem Beweismittel konfrontieren sollen, das seine Lüge aufdecken könnte.
In dieser einen Minute hätten Sie L.A. Noire gespielt, so wie ich L.A. Noire spielte, vor allem im Kopf, fast bewegungslos, über weite Strecken fasziniert.
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Die interaktive, im Jahre 1947 spielende Detektivgeschichte L.A. Noire ist ein Erfolg, und zwar aus Gründen, aus denen es sehr teuer produzierte Videospiele nur sehr selten sind: Es ist ein Spiel für Kopf und Bauch. Es ist ein Spiel, bei dem es vor allem darum geht, ganz genau zu beobachten und zu überlegen, aber doch so schnell, dass man einen Verbrecher im Verhör festnageln und überführen kann. Das Spiel wurde von einer Armee von Entwicklern der australischen Spieleschmiede Team Bondi sowie einigen Teams der Grand Theft Auto- und Red Dead Redemption-Macher bei Rockstar Games erschaffen. Sie haben keinen Grand Theft Auto-Klon fabriziert, bei dem sich alles um ununterbrochene Action und Aufregung dreht. Sie haben auch nicht Portal 2, Sudoku, Schach oder irgendein anderes Puzzlespiel gemacht, bei dem man durch das Verständnis von Geometrie und Arithmetik auf die Lösung kommen kann. Was sie kreiert haben, ist chaotischer, und zwar mit voller Absicht.
Sie haben ein Spiel gemacht, das sich als Serie von ungelösten Fällen mit dem erfundenen Cole Phelps in der Hauptrolle entpuppt. Cole Phelps ist ein 1947 nach Los Angeles zurückgekehrter Kriegsheld, der beim LAPD Karriere machen möchte. Jeder Fall ist aufgebaut wie in einer TV-Serie, mit einem Verbrechen am Anfang und einer Aufklärung am Schluss. Wie sich die Geschichte dazwischen gestaltet, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit des Spielers ab, aufgrund genauer Beobachtung und Menschenkenntnis trauen beziehungsweise misstrauen zu können und so zum Beispiel der Aussage des Ladenbesitzers Glauben zu schenken, aber nicht weil man ich nicht beweisen kann, dass er lügt, sondern weil man ihm vertraut, da man keinen Grund hat, an der Aussage zu zweifeln. Der wirklich gute L.A. Noire-Spieler vertraut einem Mann - aber vielleicht nicht dem nächsten -, weil er die Wahrheit sagt, ohne zu grinsen.
In den meisten Videospielen muss man alles richtig machen, um weiterzukommen. Dazu muss man vielleicht ein Puzzle lösen oder gut genug zielen, um Aliens zu töten, oder Marios Sprünge genau richtig timen, um Feinde von ihren Panzern zu trennen. Das Versagen besteht zumeist im genauen Gegenteil: Man kann das Rätsel nicht lösen, man wird von den Aliens erschossen oder man stürzt in den Tod; dann beginnt man mit einem neuen Leben von vorne. In L.A. Noire ist ein Weiterkommen nicht davon abhängig, ob man der Frau des Gangsters ihre Aussage abkauft oder nicht. Das Spiel geht weiter, nur anders. Recht zu haben, das Richtige zu tun, führt dazu, dass der Verdächtige beim Verhör zusammenbricht und gesteht – anstatt zwei oder drei weitere Schauplätze aufsuchen zu müssen, weil man nicht zur richtigen Zeit misstrauisch war und nachgefragt hat. Die Story kommt nicht gleich zum Stillstand, nur weil man sich geirrt hat. Man kann nicht verlieren und man kann nur von vorne beginnen, indem man die ungefähr eine Stunde in Anspruch nehmenden Fälle ganz von Anfang an neu aufrollt. Wenn man falsch liegt, fühlt man sich nur gedemütigt, weil eine andere Person - oder schlimmer, die Computersimulation einer Person - klüger war als man selbst.
Es gibt nur drei mögliche Aktionen, wenn man als Detective Cole Phelps in L.A. Noire einen Verdächtigen verhört: Vertrauen, Zweifel und das Vorlegen von Beweisen, die den Befragten als Lügner entlarven. Beim Absuchen von Tatorten gibt es etwas mehr Möglichkeiten. Man verbringt im Spiel viel Zeit damit, zu Tatorten zu fahren, sie vorsichtig und sorgfältig abzusuchen, die Köpfe und Hände blutüberströmter Leichen herumzudrehen, nach Hinweisen zu suchen und dann Fragen zu stellen – so viele Fragen zu stellen. Väter und Töchter und Filmproduzenten und Kinder, Obdachlose, Barkeeper, Taxifahrer, Unternehmer, alle werden befragt, und jeder von ihnen könnte unschuldig oder ein Krimineller sein. Jeder Hinweis, jedes Beweismittel und jede mögliche Frage für jeden Verdächtigen wird automatisch in Phelps´ Notizbuch eingetragen. Dort sind sie fest verbunden mit einer richtigen oder einer falschen Antwort. Es kommt in jeder Befragung der richtige Moment, den schmutzigen Stiefel oder den zerrissenen Brief anzusprechen; und es gibt die richtige Reaktion – Glauben, Zweifel, Vorlage von Beweisen – auf jede Antwort eines Verdächtigen.
Die einzelnen Aktionen und die verschiedenen Möglichkeiten, mit einem Verdächtigen zu interagieren, hätten dieses Abenteuer leicht zu Das Untersuchen von Gegenständen in der Nähe von Leichen: Das Videospiel oder Fragenstellen: Das Videospiel verkommen lassen können. Der Umstand, dass dies nicht die Summe aller Teile von L.A. Noire ist, ist ein Wunder und vor allem dem guten Skript und der tollen Grafik zu verdanken, zwei Leistungen, die die Kreation von Team Bondi und Rockstar Games zu einem „Übererfüller“ machen, der seine doch recht banale Beschreibung bei weitem übertrifft. Sie sorgen auch für den ungewöhnlich internalisierten Spielstil – der Spieler ist aufgefordert, wie ein Polizist zu denken und zu handeln.
In der Geschichte geht es um Ehre und Ambition. Sie wird im Laufe der aufeinanderfolgenden Kriminalfälle erzählt, in deren Verlauf Cole Phelps Karriere macht und verschiedenen Dezernaten angehört. Er steigt vom einfachen Streifenpolizisten zum Kriminalbeamten bei der Mordkommission und noch weiter auf. Die Geschichte wird auch mittels Rückblenden erzählt, in denen man mehr über Phelps´ Taten als Offizier im Pazifik während des Zweiten Weltkriegs erfährt. Das Ganze wird, für ein Videospiel äußerst ungewöhnlich, mit viel Raffinesse geschildert. Was zunächst wie eine Detektivgeschichte mit einem zutiefst anständigen Mann in der Hauptrolle wirkt, wird immer vielschichtiger, je mehr andere Figuren über den Helden, der vom Spieler gesteuert wird, preisgeben. Normalerweise habe ich das Gefühl, einen Videospielcharakter umso besser zu kennen, je mehr ich ihn spiele; hier war ich fasziniert, dass ich auch nach mehr als 22 Stunden Spielzeit nur an der Oberfläche des sehr vielschichtigen Charakters kratzte.
Während der Spieler mehr über die Geheimnisse des Mannes erfährt, den er kontrolliert, hilft ihm die Grafik des Spiels bei der Lösung der zu bearbeitenden Fälle. Die sogenannten High-Definition-Spielkonsolen Xbox 360 und PlayStation 3 gibt es seit gut und gerne fünf Jahren, doch selten benötigen die darauf laufenden Spiele die HD-Bildschirme, auf denen sie ihre beste Grafik ausspielen können. L.A. Noire erfordert wirklich die besten Bildschirme, denn andernfalls könnten Sie den Zigarettenstummel im Gras oder die kaum wahrnehmbaren Gesichtsregungen der coolsten Charaktere des Spiels glatt übersehen. Wie wenige Spiele des realistischen grafischen Stils zuvor legt L.A. Noire größten Wert auf visuelle Details und erwartet vom Spieler, dieser genau in abzusuchen, was man ja von einem Möchtegern-Detektiv auch verlangen darf. Gerade die Details bringen einen zum Denken. Man weiß zwar, dass das Spiel auch bei Fehlentscheidungen weitergeht und ein völliges Scheitern ausgeschlossen ist, doch man spürt ständig den Drang, innezuhalten, alles genau in Augenschein zu nehmen und nachzudenken.
L.A. Noire bietet auch einige Autoverfolgungsjagden und Schießereien. Das Spiel bietet auch die Gelegenheit, durch eine weite und wunderbare Nachgestaltung einer der größten amerikanischen Städte zu fahren, und zwar zu einer Zeit, da die Männer Filzhüte trugen, di glamourösesten Frauen rauchten und die großen Buchstaben auf dem Hügel noch „Hollywoodland“ sagten. All das kann man auch auslassen, aber das wäre eine Schande. Das Fahren kann man überspringen, indem man Coles jeweiligem Partner das Steuer des Polizeifahrzeugs überlässt. Spieler, die sich nur für die Story interessieren, können die Schießereien und Autoverfolgungsjagden überspringen. Nur das Suchen nach Hinweisen und das Lesen in den Gesichtern kann man nicht überspringen, denn das ist das Spiel.
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Wähend ich L.A. Noire spielte, interessierte ich mich zuallererst auf die Frage nach dem Täter. Ich war im Lösen der Fälle zumeist recht erfolgreich. Ich hatte großen Spaß daran, Verdächtige genau zu mustern und herauszufinden, ob sie lügen oder nicht. Ich verwechselte die Charaktere von L.A. Noire nie mit echten Menschen. Die Gesichter der Schauspieler wurden hervorragend eingefangen und ins Spiel übertragen, aber die Emotionen haben dennoch etwas Künstliches an sich und wirken fast wie Karikaturen – nur eben etwas andere Karikaturen, die erkennbare, wenn auch nicht genau getroffene Emotionen zur Schau stellen. (Die Mimik der männlichen Figuren ist generell besser getroffen als die der Frauen, was nicht zuletzt daran liegt, dass die Frauen im Spiel unnatürlich platte Haare haben – die natürlichsten Gesichter und die beste Mimik haben Aaron Staton als Cole Phelps und Erika Heynatz als Loungesängerin Elsa Lichmann.)
Von Beginn des Spiels an nutzte ich die Wer wird Millionär-artigen Optionen, um die eine oder andere der möglichen nicht korrekten Reaktionen auf einen Verdächtigen zu eliminieren. Oder ich löste eine meiner erworbenen Chancen ein, um die PlayStation 3Online-Spielergemeinde zu fragen, welche Möglichkeit sie in diesem Fall gewählt haben. Ich nahm Nebenaufgaben an und stürzte mich in die kurzen Autoverfolgungsjagden und Schießereien, die im Laufe der 21 Fälle des Spiels immer wieder einmal auftauchen. Ich absolvierte sie, weil sie einerseits Spaß machen und andererseits dazu beitragen, Cole Phelps´ Rang zu erhöhen. Mit jeder Beförderung erhält man auch eine Möglichkeit, diese Notfall-Millionär-Anrufe zu tätigen.
Schon während des ersten Falls deaktivierte ich einen Teil der Hilfssysteme des Spieles. So verzichtete ich etwa auf den Sound, der anzeigt, dass man sich in unmittelbarer Nähe eines Hinweises befindet. Ich ließ jedoch die mysteriöse Ermittlungsmusik weiter aus meinen Lautsprechern erschallen und ließ auch zu, dass sie aufhört, sobald alle Hinweise gefunden sind. In späteren Phasen des Spiels überließ ich meinen wechselnden Partnern bei der Polizei das Steuer, um schneller von einem Ort zum anderen zu kommen.
Ich spielte das Spiel nur mit einigen wenigen Auffangnetzen, die mich vor den schlimmsten Auswirkungen meiner dummen Fehler bewahren sollten. Diese Netze minderten lediglich den Schmerz des verletzten Stolzes, als ich einen ehrlichen Menschen einen Lügner nannte oder trotz eindeutiger Hinweise nicht bemerkte, dass mir die verdammte Schauspielerin eine Lüge nach der anderen auftischte. Das Signal, das andeutet, dass ein Verhör nicht nach Plan gelaufen ist, wurde mir immer unerträglicher, je mehr Millionär-artige Optionen ich verbraucht hatte. Diese Optionen verdient man durch Beförderungen, durch kluge Befragungen, durch das Besichtigen von Sehenswürdigkeiten oder indem man Phelps kleine Nebenaufgaben lösen lässt, die sich während der Hauptfälle ergeben. Diese Sicherheitsnetze helfen, doch es gibt aufgrund der Zwänge der Haupthandlung im Laufe des Spiels immer weniger Gelegenheiten zu Nebenaufgaben. Nach ungefähr zwei Dritteln des Spiels waren diese Sicherheitsnetze nicht mehr vorhanden.
Gegen Ende von L.A. Noire werden die Fälle immer schwieriger. Die Verdächtigen werden immer gewiefter und sind dadurch schwer einzuschätzen, weshalb man ihnen immer länger ins Gesicht starrt, um sich eine Meinung zu bilden. In diesen Momenten wird man fast zu einem echten Polizisten.
Die Geschichte von L.A. Noire hielt mich ständig in ihrem Bann. Ich hörte nie auf, mich für das Schicksal von Cole Phelps zu interessieren. Auch die Personen seines Umfelds wuchsen mir zunehmend ans Herz. Ich hatte stets eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wer gut und wer böse ist, doch fehlte mir mitunter der genaue Plan, wie ich alles geradebiegen könnte.
Es ist mehr als passend, dass der Soundtrack des Spiels so schwermütig, so oft das musikalische Äquivalent eines verregneten Tages oder eines Sonnenuntergangs ist. Die Macher möchten, dass man sich bei dem Spiel unbehaglich fühlt und sein Möglichstes tut, um alles wieder in Ordnung zu bringen, egal ob mit Verstand oder mit Gefühl. Man kann kaum versagen, aber das macht das Spiel noch lange nicht einfach. Es ist unbehaglich, aber auf eine positive Weise.
PRO: Auf spektakuläre Weise filmisch – die MotionScan-Technologie verändert die Spielewelt; fesselnde Kampagne mit einer interessanten Story; Verhöre und Ermittlungen machen wirklich Spaß; die Nachgestaltung von Los Angeles anno 1947 ist beeindruckend.
CONTRA: Einige grafische Fehler und Verlangsamungen; der episodische Fall-Aufbau kann mitunter die übergeordnete Geschichte verschleiern; das enge Korsett der Haupthandlung wird Fans von Open-World-Spielen wenig behagen.
L.A. Noire wurde von Team Bondi und Rockstar Games entwickelt und von Rockstar Games am 20. Mai 2011 für PlayStation 3 und Xbox 360 veröffentlicht. Spielte di gesamte Kampagne auf der PlayStation 3 durch.
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